Aus dem Amtsblatt der Stadtgemeinde Klosterneuburg / Sondereinlage Nr. 79 / Oktober 1976
Gerta Hartl:
Ein hochelegantes, für die armselige Zwischenkriegszeit recht ungewöhnliches Auto fährt in Richtung Klosterneuburg. Der distinguierte ältere Herr, neben dem Privatchauffeur scheint den Sehenswürdigkeiten des Augustiner Chorherrnstiftes seine Aufwartung machen zu wollen. Aber nein! Ehe der Wagen den Rathausplatz erreicht, biegt er nach links und hält in der damaligen Weinberggasse vor einem einstöckigen Haus. Ein Mädchen öffnet, die Tür des Ordinationszimmers geht auf, Doktor Arthur Weiß bittet den Herrn und die ihm folgende Nurse, mit dessen einjährigem Enkelkind auf dem Arm, einzutreten.
Das kluge, schmale Apostelgesicht des Arztes, mit dem damals so unmodernem Bart beugt sich über das abgemagerte Kind. Die zarten Hände betasten, beklopfen den kleinen Körper und untersuchen ihn ebenso behutsam wie gründlich, im tiefen Bewußtsein um den Wert jeglichen menschlichen Lebens.
Der Großvater verfolgt mit ängstlicher Spannung das Tun des Arztes, dessen Sorgfalt, dessen eminentes Können sich selbst im großen Wien herumgesprochen hat. „Das Kind ist vollkommen gesund", diagnostiziert Doktor Weiß in seiner beruhigenden Art und erkundigt sich genauestens über die Art der Ernährung des Kleinkindes.
Die Nurse gibt Auskunft. „So lebt das Kind also fast ausschließlich von Rohkost", faßt der Arzt zusammen, und der Großvater erwartet irgendwelche stärkende Medikamente.
Der Rezeptblock bleibt unberührt. „Versuchen wir es einmal mit dem guten, erprobten Grießkoch", sagt Weiß ernsthaft, nichts weiter.
Und die Kur hat, wie sich nach einigen Wochen herausstellt, Erfolg.
Wer aber aus dieser kleinen Begebenheit am Rande einer großen ärztlichen Praxis herauszulesen meint, daß Primarius Weiß den überkommenen Methoden anhing, der irrt. Ganz im Gegenteil war er unentwegt damit befaßt, sich an den neuesten Forschungsergebnissen zu orientieren und sie bestmöglich zur Anwendung zu bringen. Schon sein Ordinationszimmer in der heutigen Franz-Rumpler-Straße war mit den zur Zeit modernsten Apparaten ausgestattet, was krass im Gegensatz zu seiner überaus bescheidenen Lebensweise stand. Der Wunsch, durch Neuerungen und Verbesserungen seinen kranken Landsleuten zu helfen, hieß ihn auch den Um- und Zubau des damals äußerst rückschrittlichen Krankenhauses in Klosterneuburg zu betreiben. Seinem unermüdlichen Ringen um die Verwirklichung seiner Pläne lieh seine Frau Dora selbstlos ihre Hilfe. Sie, die begabte Konzertpianistin, erspielte durch ihre Konzerte vieles, das im neuen Spital fehlte, wie -beispielsweise- das Röntgenzimmer.
In diesem so schwer erkämpften Krankenhaus setzte Primarius Weiß sein ganzes großes Können ein. Seine nahezu unglaubliche Vielseitigkeit erlaubte es durch Jahre, sowohl die Leitung zu übernehmen, als auch als Chirurg, Internist und Gynäkologe zu arbeiten.
Fast allabendlich war Dr. Weiß mit seinem Fahrrad unterwegs, um im Spital nochmals nach seinen Schwerkranken zu sehen.
Wenn etwas über sein medizinisches Können, seine Befähigung klare Diagnosen zu erstellen ging, dann seine selbstlose Menschlichkeit. Er pflegte nicht nurdie organischen Leiden seiner Patienten zu behandeln, er forschte gleicher Weise nach den seelischen und nervlichen Ursachen des Unbehagens.
Und so behutsam wie er die Kranken untersuchte, so vorsichtig spürte er auch ihrem Leid, ihren Bedrängnissen nach und vermochte eben dadurch mancherlei Krankheiten zu heilen oder zu lindern.
Das Bewußtsein des Patienten, sich nicht nur einem guten Arzt, sondern auch einem überaus gütigen und teilnehmenden Menschen anvertraut zu haben, schaffte jene besondere Beziehung zwischen Prim. Weiß und seinen Patienten.
Dennoch ließ die Zeit ohne Gnade, die da im Jahre 1938 ihren mitleidslosen Anfang nahm, alle Verdienste Dr. Weiß' vergessen. Aus seinem Spital gewiesen, aus seinem Wohnhaus gejagt, fristete er im zweiten Wiener Gemeindebezirk sein leidvolles Dasein, immer noch bestrebt seinem geliebten Volk im jüdischen Spital in der Malzgasse beizustehen.
Aber auch das sollte nicht die letzte Station seines Passionsweges sein. Einer der berüchtigten, unmenschlichen Transporte verschleppte auch ihn ins Konzentrationslager Theresienstadt, einem Ort des Grauens und der Tränen. Zutiefst verletzt, in der Seele verwundet und dennoch nicht verbittert, kehrte er 1945 in sein Klosterneuburger Haus, das seine treue Haushälterin, Frau Steffy, bewahrt hatte, zurück. Die drei Jahre, die ihm noch geschenkt waren, widmete er sich, soweit es seine Gesundheit erlaubte, dem Studium der Atomphysik und befaßte sich mit den verschiedensten philosophischen Werken, zu deren Studien er sich die Unterlagen in der Bibliothek des Chorherrenstiftes beschaffte. Bis zuletzt pflegte er das Gespräch und sorgte sich um seinen arg dezimierten Freundeskreis.
Am 4. September 1948 schloß er seine Augen für immer.
Er war ein Mann mit Eigenschaften, mit selten guten und schönen Eigenschaften. Er war ein Mann von überragender Geistigkeit, ein Mann mit einem gütigen Herzen. Primarius Dr. Arthur Weiß verdient es auch in unserer raschlebigen und allzu vergeßlichen Zeit, nicht vergessen zu werden.